Praderwilli-Syndrom: Hinweise zur Diagnostik und Therapie 2017-02-26T21:17:40+00:00

Hinweise zur Diagnostik und Therapie

Von Univ.Doz.Dr.Olaf Rittinger
Beitrag für die Zeitschrift: Arzt und Kind 2007

Einleitung
Das Prader-WilliSyndrom (PWS) nimmt innerhalb der neurogenetisch bedingten Erkrankungen aus mehrfachen Gründen eine Sonderstellung ein: es stellt die häufigste Ursache eines morbiden syndromatischen Übergewichts dar, ist eines der Paradigmen für Erkrankungen, denen eine Funktionsstörung in einem elterlich geprägten Gencluster zugrunde liegt, und zeigt pathogenetisch einen deutlichen Bezug zu endokrinologisch-metabolischen Störungen, woraus sich seit einigen Jahren ein vielfach positiver Therapieansatz mit rekombinantem Wachstumshormon ergeben hat. In diesem Beitrag sollen Hinweise für eine verlässliche klinische und molekulare Diagnose sowie den multidisziplinären Ansatz in der Unterstützung dieser Patienten gegeben werden.

Klinische Diagnose
Neugeborenenalter
Das Neugeborene mit PWS ist durch eine schwere muskuläre Hypotonie gekennzeichnet, die oftmals apparative Atemhilfen in den ersten Tagen erfordert, jedenfalls aber mit erheblichen Trinkschwierigkeiten mit der Notwendigkeit einer Sondenernährung gekennzeichnet ist. Die Symptome lassen differentialdiagnostisch an Muskelatrophie, metabolische Störungen oder ZNS-Anomalien denken. Anamnestisch lassen sich oftmals verminderte Kindesbewegungen erfragen, etwa 1 von 4 Kindern wird aus Beckenendlage geboren. Der verminderte Muskeltonus kann begleitet sein von Schlaf-assoziierten zentralen und obstruktiven Apnoephasen, die auf einer verzögerten Triggerfunktion abnormer O2 und CO2 Drucke beruhen. Abgesehen von dieser offensichtlichen functio laesa geben einige äußere Merkmale weitere Hinweise: der Hypogenitalismus fällt besonders bei Knaben auf und ist häufig mit einem Kryptorchismus verbunden. Hände und Füße sind auch bei normaler Körperlänge ungewöhnlich klein, dieses Merkmal wird aber später deutlicher. Die Gesichtszüge zeigen vergleichsweise nur eine milde Dysmorphie, mit schmaler hoher Stirn, leicht ansteigende Lidachsen, zeltförmig hochgezogener Oberlippe und hängenden Mundwinkel. Etwa ¾ aller Deletionspatienten zeigen eine unerwartet helle Pigmentierung.

Frühe Kindheit
Die muskuläre Hypotonie ist lebensbegleitend, tritt allerdings mit zunehmender Muskelmasse im Lauf des ersten Lebensjahres etwas zurück. Durchschnittlich können PWS Kinder mit 1 Jahr frei sitzen, mit 2 Jahren ohne Unterstützung ein paar Schritte machen. In diese Zeit fällt auch die äußerliche Metamorphose, die von einem verstärkten bis unstillbaren Appetit begleitet ist, der bis zum Kindergartenalter unbehandelt zu Adipositas bei gleichzeitig verminderter Wachstumsgeschwindigkeit führt. Die körperlichen Veränderungen werden begleitet von einer verzögerten und gestörten Sprachentwicklung, verminderter Frustrationstoleranz, die vor allem bei unerwartet geänderten Tagesabläufen zu Wutausbrüchen (temper tantrums) und aggressivem Verhalten führen können. Das Sehvermögen kann durch Strabismus, gestörtes räumliches Sehen und häufig durch eine Myopie vermindert sein. In dieser Altersstufe entwickelt sich häufig durch periorbitale Weichteilpolster ein mandelförmiger Aspekt der Augen. In Abhängigkeit von der Gewichtsentwicklung treten orthopädische Probleme wie genua valga und Hyperlordose hinzu.

Schulalter und Adoleszenz
Die große Mehrheit der Kinder hat einen erhöhten Förderbedarf, auch wenn einzelne Kinder bis zur Hauptschule eine Regelschule besuchen können. Die Möglichkeiten der kognitiven Entwicklung sind recht unterschiedlich: etwa ein Drittel der Kinder erreicht einen IQ im niedrig-normalen Bereich (70-100), die übrigen weisen eine milde bis moderate mentale Retardierung auf, der durchschnittliche IQ liegt mit 65 im Bereich der Lernbehinderung. Verhaltensprobleme sind häufig und bedingen einen zusätzlichen Förderbedarf. Andererseits zeigen viele PWS Kinder eine erstaunliche sprachliche Fertigkeit, und eine besondere Begabung in der visuellen Wahrnehmung (Puzzle-Meister).
Die Pubertätsentwicklung ist verzögert oder fehlt ganz, damit verbunden ist auch ein ausbleibender Wachstumsschub. Der Hypogenitalismus ist zentraler und peripherer Natur, der Hypogonadismus ist hypophysär-hypothalamisch ausgelöst. Ein Kryptorchismus ist häufig und sollte nach erfolgloser internistischer Therapie operativ versorgt werden, eine Substitution verminderter Sexualhormone kann das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl der Patienten verbessern helfen. Eine volle sexuelle Reife ist selten; immerhin sind zumindest 2 PWS Frauen in der Weltliteratur auch molekulargenetisch belegt, die Kinder ausgetragen haben, Vaterschaften von PWS sind dagegen niemals berichtet worden. Seit langem ist bekannt und mittlerweile durch zahlreiche Studien besonders aus den USA, Schweden und der Schweiz belegt, dass sich der unbehandelt fast obligate Kleinwuchs durch Therapie mit Wachtumshormon günstig beeinflussen lässt und neben dem auxologischen Effekt auch Verbesserungen der Leistungsfähigkeit, Ausdauer und Körperzusammensetzung (Verschiebung des Quotienten Fettmasse/Fettfreie Masse) erreicht werden können. Damit ist zu hoffen, dass auch die Adipositas-assoziierten Komorbiditäten zurückgedrängt werden können. Nicht zuletzt kann sich diese Therapiemaßnahme auch kosmetisch günstig auf den Phänotyp auswirken (Abb. 1). Im Laufe der Adoleszenz kann eine Skoliose mit und ohne WH-Therapie eine langfristige konservative oder auch operative Therapie nötig machen.
Zentrales Problem ist allerdings der unbehandelt bedrohliche Gewichtszuwachs, 150 kg bei Teenagern sind leider keine Seltenheit, deren Komplikation (Herzinfarkt, Magenruptur, Hypoventilationssyndrom) Ursache für frühe Todesfälle sind.

Psychische und psychiatrische Probleme
In der Adoleszenz verstärken sich vorbestehendes zwanghaftes Verhalten und temper tantrums, depressive und psychotische Symptome können hinzutreten und eine medikamentöse Therapie unausweichlich machen. Entscheidend für eine günstige Beeinflussung sind eine Betreuung und Supervision durch PWS-geschulte Psychologen, Pädagogen und Psychiater, sowie letztlich die Integration in Lebensräume, die eine berufliche Tätigkeit und eine gewisse Autonomie in Entscheidungen des täglichen Lebens zulassen (sog. Betreutes Wohnen). Konfliktsitutionen aus unbewältigten Problemen können Exazerbationen von Verhaltensproblemen und somatischen Symptomen hervorrufen. Der begrenzte Zugang zu Nahrungsmittel bleibt auch in diesem Zusammenhang wichtig. Im Vergleich mit nicht-PWS Patienten gleichen IQ’s zeigen PWS Patienten ein höheres selbst-verletzendes Verhalten (u.a. skin picking). Einige Befunde sprechen für eine Pathogenese über den Wegfall oder zumindest die Verminderung des hemmenden Einflusses GABA-erger Neuronen auf das serotoninerge und dopaminerge System. Manche dieser selbstverletzenden Verhaltensstörungen sind medikamentös zu beeinflussen, zB durch Neuroleptika oder Serotonin-reuptake inhibitors (SRI). Im Zusammenhang mit Eigentumsdelikten ist die Anwaltschaft durch einen Rechtsvertreter eine sinnvolle und wichtige Maßnahme. Gegenwärtig gibt es allerdings kein Therapiekonzept, das allen psychiatrischen Problemen bei PWS gerecht werden könnte. Günstig erweist sich, neben einem gut eingespielten voraussagbarem Tagesablauf, ein auf Verhaltensmuster aufgebautes „Belohnungssystem“, das die Einhaltung von den Reglements für Essen, Trainingseinheiten und Arbeitsabläufen berücksichtigt.

Genetische Diagnose
Die Chromosomenregion 15q11-13 enthält eine Gruppe von Genen (Gencluster), die ausschließlich am väterlich vererbten Chromosom exprimiert werden, d.h. aktiviert sind. Diese Genetische Prägung (genomic imprinting) erfolgt in der Keimbahn eines jeden Individuums in einer geschlechtsspezifischen Modifikation. Der Funktionsausfall in diesm Gencluster kann auf eine Mikrodeletion (häufigste Form, etwa 70%), das Vorliegen zweier mütterlich vererbter Chromosomen 15 (maternale uniparentale Disomie 15,mUPD15), oder auf eine Störung im Imprint-Center (IC) zurückgehen. Goldstandard der Diagnostik ist heutzutage der sog. Methylierungstest, der auf einem Nachweis einer methylierten Promotorregion bei PWS beruht und in nahezu allen Fällen von PWS ein eindeutiges Resultat liefert. Die häufige Mikrodeletion lässt sich durch ein fehlendes spezifisches Fluoreszenzsignal sichtbar machen. Andere Formen bedürfen zu ihrem Nachweis subtilerer Labormethoden.

Langzeitbetreuung
Eine erfolgreiche Führung von PWS-Patienten erfordert die Kooperation von Experten verschiedener Fachrichtungen. Eine besondere Herausforderung ist die endokrinologische Behandlung der Patienten. Eine umfassende Betreuung durch Spezialisten verschiedener Fachrichtungen beginnt sich erst allmählich zu entwickeln, sie ist aber für den Erfolg jeder Einzelmaßnahme ein Prerequisit, das gilt auch für den Einsatz von WH, das ohne ein begleitendes Ernährungskonzept, oder flankierende psychologische Unerstützung ohne Langzeiterfolg bleiben wird. Für Betroffene bedeuten die verschiedenen klinischen Symptome eine erhöhte Morbidität, soziale Einschränkung, vermindertes Selbstwertgefühl und emotionale Instabilität. Diese kann wesentlich verbessert werden durch logopädische, ergotherapeutische und heilpädagogische Führung. Nachfolgeuntersuchungen sollten neben der auxologisch und funktionell bedeutsamen WH-Therapie auch die Substitution gonadaler Steroide mit einschließen.
Ein Konsensus Statement über die Teambetreuung bei PWS erschien als Expertenmeinung 2004 Es geht insbesondere auf die Erfahrungen mit WH ein, die und schildert im Detail die Richtlinien für diese Therapie in UK und Schweden. Literatur beim Verfasser.