Das Prader-Willi-Syndrom, welches 1956 erstmals von den Schweizer Ärzten Prader, Willi und Labhart beschrieben wurde, betrifft eines von ca. 10.000 Neugeborenen. Es wird angenommen, daß es weltweit 350.000 Menschen mi PWS gibt. PWS entsteht durch eine spontane (zufällige) Mutation (Veränderung) des Erbgutes und kann somit Jeden treffen.
Viele vom PWS
Betroffene sind noch ohne Diagnose. Eine frühe Diagnostik ist von
entscheidender Bedeutung für eine Therapie. Heute kann die
Diagnose im ersten Lebensmonat durch einen molekulargenetischen Test
erstellt werden. Nach neuen Erkenntnissen kann jedes Symptom einzeln
therapiert werden, was zu einer wesentlichen Verbesserung der
Lebenssituation der Betroffenen führt. Während im Bereich der
medizinischen und diätetischen Therapie Fortschritte zu
verzeichnen sind, befindet sich die Erforschung der psychologischen
Strukturen noch am Anfang. Gerade hier muss intensive Arbeit geleistet
werden, um die Belastung der betroffenen Familien zu mildern.
Bei einem von etwa zehntausend neugeborenen Kindern ist ein Prader-Willi-Syndrom zu erwarten.
Immer mehr Ärztinnen und Ärzte sehen es den
muskelschwachen, trinkschwachen und scheinbar lebensschwachen
Neugeborenen am Gesicht an, dass bei ihnen mit mehr oder weniger
großer Wahrscheinlichkeit ein Prader-Willi-Syndrom vorliegt. Dies
wird in einem humangenetischen Diagnostiklabor
überprüft, wenn die Eltern es wünschen.
Kindern mit Prader-Willi-Syndrom fehlt entweder ein kleines Stück
im väterlichen Chromosom 15 (Mikrodeletion) oder sie haben zwei
Chromosomen 15 von der Mutter und keines vom Vater geerbt (uniparentale
Disomie 15).
Es fehlt ihnen eine Gensequenz im väterlichen Chromosom 15, erklären die Ärzte den Eltern.
Ganz normal, meinen die Kinder, die sich von Anfang an gemäß diesem Genprogramm entwickeln. Sie treten damit ins Leben ein und haben wie alle Kinder den Anspruch und das Recht, so wie sie sind angenommen, ernst genommen und erzogen zu werden. Von Geburt an gehören sie dazu. Später, als Jugendliche und Erwachsene möchten sie ihren Beitrag zur sozialen Gemeinschaft leisten und dafür anerkannt werden.
Wir machen es den Kindern mit Prader-Willi-Syndrom schwer, wenn wir ihre genetische Konstitution als einen ”Fehler” oder eine ”Krankheit” bezeichnen und wenn wir sie - bewusst oder unbewusst - mit Kindern vergleichen, die kein Prader-Willi-Syndrom haben. Früh sollen die Erwartungen und Wünsche der Eltern auf ihre besonderen Fähigkeiten und Bedürfnisse gelenkt und unzutreffende, ihre Entwicklung behindernde Vergleiche vermieden werden.
Am Anfang müssen die Eltern lernen, ihr unerwartetes Kind anzunehmen. Dann werden auch die Verwandten, Freunde und Nachbarn ”JA” zu ihm sagen. Später benötigt es Erzieher/innen und Lehrer/innen, die es in seiner ganz besonderen Art verstehen und akzeptieren. Es lernt - wie alle Kinder - die Welt zu verstehen und sich darin zurecht zu finden. Wir lernen von ihm, dass das Leben nicht immer gleich ist. Wir stutzen, wundern uns und fragen: ”Was ist hier anders?” Wenn wir offen bleiben erfahren wir, dass anders sein auch in Ordnung ist.
Sabine Stengel-Rutkowski
Dr. Maria Huber
Klinische Psychologin, PWS AUSTRIA
2002
Ich habe versucht zusammenzufassen, was meiner Erfahrung nach häufig in einem Jugendlichen mit PWS vor sich geht.
Der Jugendliche denkt sich:
"Das, was mir am liebsten ist, ist schlecht für mich und mein
größter Feind. Bei jedem anderen ist es völlig
selbstverständlich, daß er selber bestimmt, wieviel er
ißt. Bei mir nicht. Bei mir bestimmen die anderen, wenn ich auch
ein bißchen mitbestimmen kann, was ich esse.
Ich werde immer älter und auch immer selbständiger. Beim
Essen muß ich mich aber behandeln lassen wie ein kleines Baby.
Das verunsichert und irritiert mich.
Ich weiß, daß es notwendig ist, daß die Eltern mein
Essen kontrollieren und will dies auch. Ich bin aber auch böse
deswegen. Irgendwie ist es doch eine dauernde Einmischung. Mein Magen
gehört doch zu mir, oder ?
Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich aus zwei Teilen
bestehe. Ein Teil von mir ist gierig und will essen, ein anderer Teil
will dies nicht und findet dies ganz schrecklich. Manchmal setzt sich
der gierige Teil durch. Dann tue ich, was mir paßt und reagiere
mich ab. Das alles bringt mich ganz durcheinander. Wer bin ich nun
wirklich ?
Den gierigen Teil mag niemand leiden, auch ich nicht. Am besten ist,
wenn er eingesperrt wird. Am besten ist es, wenn er nicht da ist. Der
gierige Teil hat aber den gleichen Namen wie ich. Das bringt mich ganz
durcheinander. Am besten ist es, wenn ich alles möglichst schnell
vergesse.
Das alles ist ein großes Chaos, das mich so konfus macht,
daß ich viel Ruhe brauche. Störungen sind eine Katastrophe.
Ich bin alleine. Warum habe ausgerechnet ich PWS
? Das ist ungerecht. Ich kann doch nichts dafür. Warum werde ich
später wahrscheinlich keine Kinder haben können ? Ich bin ein
Junge/ein Mädchen, ich will auch Spaß haben. Ich möchte
Freunde haben. Ich möchte in einer Clique sein. Ich möchte
auch mit einem Jungen/einem Mädchen tanzen und auch ein
bißchen herumknutschen.
Meine Mitschüler sind manchmal gemein zu mir. Sie schneiden mich und lachen mich
auch aus. Manchmal werde ich auf der Straße blöd angesprochen. Ich kann doch nichts dafür daß ich PWS habe. Warum wissen die alle nicht, was PWS ist ? Die können sich doch informieren.
Es kommt vor, daß ich so viel gleichzeitig im Kopf habe, daß ich Angst habe, jetzt explodiert er gleich.
Ich bin froh, daß ich meine Hobbies habe. Ich bin stolz darauf,
daß es mir in der Schule gut geht, daß ich bereits selber
Geld verdiene.
Aber - alle anderen haben kein Problem. Nur ich habe ein Problem. Dabei will ich doch nur so sein wie alle andern."